Ob zu Hause, beim Einkaufen oder im Büro: Wir sind fast immer und überall von Texten umgeben. Lesen ist eine der wichtigsten Grundfertigkeiten, die wir auf der Schule lernen. Für rund 1,2 Millionen Blinde und Sehbehinderte in Deutschland ist das eine große Hürde und hindert diese Menschen daran, im Alltag unabhängiger zu sein. Das israelische Start-up OrCam Technologies löst dieses Problem mit einer neuen Hightech-Sehhilfe: Der OrCam MyEye. Das Gerät kann alle Texte vorlesen, Personen erkennen und noch einiges mehr. Wir haben die neue Technologie getestet.
Erster Eindruck
Was zuerst auffällt: Die OrCam MyEye sieht nicht aus wie ein medizinisches Hilfsmittel, sondern eher wie ein Lifestyle-Produkt. Das Gerät ist ungefähr so groß wie ein USB-Stick und kann per Magnet an jeder normalen Brille per Magnet befestigt werden – die entsprechende Halterung liefert der Hersteller mit. Man kann das Gerät links oder rechts an der Brille tragen. Laut OrCam wiegt das Produkt 22,5 Gramm. Wir haben das kleine Zusatzgewicht nach kurzer Zeit nicht mehr gemerkt. Der Akku hält je nach Gebrauch 1-2 Stunden.
So funktioniert die OrCam MyEye
Die OrCam MyEye ist im Kern eine intelligente Kamera, die unter anderem Texte und Personen erkennen kann. Wir probieren es aus und halten eine Zeitung vor uns. Dann tippen wir das Gerät einmal an – und staunen: Nahezu ohne Verzögerung liest uns das Hilfsmittel den Artikel fehlerfrei vor. Die Vorlese-Stimme wirkt deutlich menschlicher und angenehmer als die üblichen Roboter-Stimmen, die wir von anderen Software-Lösungen kennen. Wir können übrigens frei einstellen, ob wir einen männlichen oder weiblichen Sprecher wünschen und wie schnell gelesen werden soll. Die Lautstärke können wir ebenfalls variieren – in der normalen Einstellung hört nur der Nutzer selbst, was die OrCam sagt. Nach der Zeitung testen wir noch einen Flyer, den Computer-Bildschirm und eine Speisekarte. Das funktioniert problemlos und intuitiv – wir können auch einfach auf den Text zeigen, den wir hören wollen. Diese Option dürfte gerade für Menschen interessant sein, die nicht komplett erblindet, aber stark sehbeeinträchtigt sind. Nur Handschriften erkennt das Gerät (noch) nicht. Insgesamt funktioniert das Lesen erstaunlich problemlos – wir haben nur am Anfang ein paar Anläufe gebraucht, um Texte im richtigen Winkel zur Kamera zu halten. Nach ein paar Durchgängen hatten wir uns aber daran gewöhnt.
Gesichter und Produkte erkennen
Vorlesen ist aber nicht die einzige Funktion der OrCam MyEye – das Hilfsmittel kann auch Menschen und Produkte erkennen. Wir machen den Test und stellen uns vor eine andere Person. Tippen wir die OrCam an, sagt sie uns, dass ein Mann vor uns steht. Wenn wir länger auf das Gerät drücken, startet der Lern-Prozess – wir bringen dem Produkt bei, wen wir vor uns haben. Dazu muss die andere Person ihren Kopf bewegen, damit die OrCam-Kamera möglichst viele Perspektiven sieht. Anschließend nennt man den Namen des Gegenüber. Insgesamt dauert das rund eine Minute. Wenn diese Person jetzt in unser Sichtfeld kommt, sagt uns das Hilfsmittel am Ohr automatisch, wen wir vor uns haben. Wir können einstellen, wie oft das Gerät uns den Namen nennt, damit wir zum Beispiel im Café nicht andauernd hören, mit wem wir zusammen sitzen.
Die Produkterkennung funktioniert sehr ähnlich – wir können der OrCam MyEye alle Produkte beibringen, die für uns im Alltag wichtig sind. Es gibt aber noch einen einfacheren Weg: Im Gerät ist eine Datenbank mit Barcodes hinterlegt. Wenn wir also den entsprechenden Code ins Blickfeld nehmen, sagt uns die OrCam direkt die vollständige Produkt-Bezeichnung. Das funktioniert nach unseren Probeläufen schon bei ziemlich vielen Waren, alle kennt das Hilfsmittel aber noch nicht. Laut Hersteller wird die Datenbank laufend ausgebaut und soll bald deutlich mehr Produkte führen.
Was die OrCam MyEye noch kann
Nach und nach lernen wir noch weitere nützliche Funktionen, die uns das Gerät bietet: So können wir per Handgelenks-Geste die Uhrzeit hören und mit einem Tastendruck die Farben von Dingen in unserer Umgebung erfahren. Außerdem kann die OrCam MyEye Geldscheine erkennen, was insbesondere für Blinde beim Bezahlen ausgesprochen praktisch sein könnte.
Als Hilfsmittel anerkannt
Ziemlich viel Hightech also für ein kleines Gerät, das blinden und sehbehinderten Menschen deutlich mehr Unabhängigkeit gewähren dürfte – aber was kostet es? Laut Hersteller liegt die unverbindliche Preisempfehlung für das aktuelle Modell OrCam MyEye 2 bei 4.500 Euro zzgl MwSt. Das klingt üppig, ist allerdings für ein modernes Hilfsmittel kein ungewöhnlich hoher Preis – zumal die OrCam mehrere Funktionen bereitstellt, für die man sonst separat zahlen müsste. Das sehen offenbar auch die gesetzlichen Krankenkassen so: Die haben die OrCam MyEye als offizielles Hilfsmittel anerkannt. Das bedeutet, das Menschen mit starker Sehbeeinträchtigung den Kaufpreis anteilig oder sogar komplett von ihrer Krankenkasse erstattet bekommen können.
Die OrCam funktioniert offline
Insbesondere in Deutschland ist Datenschutz ein heikles Thema. Umso löblicher, dass die OrCam MyEye keine Internetverbindung benötigt, sondern komplett offline funktioniert. Es gibt also keine Datenübertragung an irgendeine Cloud, sondern alles passiert direkt auf dem Gerät. Texte, die man mit dem Hilfsmittel liest, werden nicht gespeichert. Und selbst Personen, die man der Sehhilfe beibringt, liegen nicht als Bilddateien auf dem Gerät: Das Produkt speichert so genannte Vektordaten, also bestimmte Punkte eines Gesichts. So arbeiten die meisten professionellen Gesichtserkennungen – damit ist gewährleistet, dass man auch mit Brille und Bart erkannt werden kann.
Gewinner des Red Herring Top 100 Europe Preises
Im Februar 2019 zeichnete das globale Medienunternehmen Red Herring das Start-up OrCam als vielversprechendstes Nachwuchsunternehmen in Europa mit dem Top 100 Europe Award aus. Der Preis gilt als ausgesprochen renommiert – zu den vorherigen Gewinnern zählen unter anderem Google, Facebook, YouTube und Alibaba.
Wer hinter dem neuen Hilfsmittel steckt
OrCam Technologies wurde 2010 von Prof. Amnon Shashua und Ziv Aviram in Jerusalem gegründet. Beide sind in der Unternehmerszene bestens bekannt als die Gründer von Mobileye, dem Weltmarktführer für Fahrassistenzsysteme. Im August 2017 kaufte das US-amerikanische Unternehmen Intel Mobileye für 15,3 Milliarden US-Dollar – der bis dato größte Wirtschaftsdeal der israelischen Geschichte. OrCam Technologies scheint eine ähnliche Erfolgsgeschichte hinzulegen: Mittlerweile hat das Unternehmen eine Milliardenbewertung und gilt damit als Unicorn.
OrCam MyEye – unser Fazit
Es ist beeindruckend, was das israelische Start-up OrCam alles in sein kleines Gerät gepackt hat. Neben Gesichtserkennung, Barcode-Scanner und anderen Features ist es vor allem das Vorlesen, das uns begeistert hat: Das funktioniert schnell, einfach und überraschend präzise. Bei komplexeren Dokumenten kommt es hier und da noch zu kleineren Fehlern, aber insgesamt ist es die mit Abstand beste Texterkennung, die wir bisher gesehen haben. Neben den sinnvollen Funktionen und der einfachen Bedienung gefiel uns aber auch die Gestaltung des Gerätes. Die MyEye sieht nicht aus wie ein langweiliges Hilfsmittel, sondern eher wie ein cooles Gadget. Für blinde und sehbehinderte Menschen könnte das neben den anderen Vorteilen ein guter Grund sein, die OrCam selbst zu testen.
Mehr Informationen zur Sehhilfe gibt es unter: https://www.orcam.com/de/