Von Fredrik Solberg, CEO von EIR
Zurich ist eines der größten Versicherungsunternehmen Europas. Ich war dort fast zwei Jahrzehnte, zuletzt in der Rolle als CFO für Europa, tätig. Nach einem Sabbatical im Jahr 2022 entschied ich mich für einen weitreichenden Schritt: vom Großkonzern ins Startup. Heute bin ich CEO von EIR, einem aufstrebenden schwedischen Technologieunternehmen. „Das muss ein Kultur-Schock gewesen sein”, entgegnen mir viele, wenn ich die Geschichte erzähle. Die beiden Welten sind zwar zu 100 Prozent unterschiedlich, aber es gibt auch viele Gemeinsamkeiten. Das sind meine fünf Learnings:
1. Menschen
Unabhängig von der Größe oder Art des Unternehmens sollten die Menschen und ihre Beziehungen untereinander immer an erster Stelle stehen. Das klingt erst einmal trivial, aber hier geht es nicht nur um die eigenen Mitarbeiter:innen. Mit allen wichtigen Stakeholdern herauszufinden, was jedem einzelnen wichtig ist und sie bestmöglich zu unterstützen, ist essenziell. Woher weiß man, was sie brauchen? Triff dich mit ihnen, stelle Fragen und baue eine Beziehung auf.
Vertrauen ist hier der Schlüssel. Kund:innen, Mitarbeiter:innen, Shareholder, Regulierungsbehörden und andere Interessengruppen müssen das Gefühl haben, dass ihre Herausforderungen und Bedürfnisse verstanden werden und dass man bereit ist, ihnen zu liefern, was sie brauchen. Dieses Vertrauen führt zu einer langfristigen, positiven Zusammenarbeit.
2. Mut
Innovation ist für die meisten Startups eine Grundvoraussetzung – Mut ist dafür unerlässlich. Das Unternehmen muss darauf ausgerichtet sein, neue Wege zu gehen und Dinge anders zu machen als die großen Konzerne. Ausschlaggebend ist es, Entscheidungen zu treffen und Risiken einzugehen, im Bewusstsein, dass nicht alles funktionieren wird – und das ist in Ordnung.
Leider gibt es hier kein Patentrezept, um die richtige Entscheidung zu treffen. Aber man kann die Menschen in seinem Umfeld zu Rate ziehen: Das Team, die Gründer:innen, Vorstandsmitglieder und Mentor:innen. Indem man sein Denken von anderen hinterfragen lässt, kann man sicherstellen, dass die bestmögliche Grundlage für eine Entscheidung zur Verfügung steht. Je mehr Einsichten und Ideen ich vorher aufnehmen kann, desto wahrscheinlicher ist es, dass ich eine gute Entscheidung treffe.
Wie es im Eishockey heißt: Man verfehlt 100 Prozent der Schüsse, die man nicht macht. Gleichzeitig brauchen jedoch auch die großen Corporates Mut. Stellen Sie sich einmal vor, Sie sind Weltmarktführer und merken plötzlich, dass ein Produkt das Ende seines Lebenszyklus erreicht hat. Einfach von der Produktliste streichen und in Forschung und Entwicklung investieren oder mit einem Startup kooperieren? Das verlangt Mut.
3. Kultur
Ja, es braucht eine Strategie. Aber wenn diese nicht in praktische Maßnahmen übersetzt werden kann, ist sie nichts wert. Eine starke Unternehmenskultur, die von Risikobereitschaft, Zusammenarbeit, Innovation und Verantwortungsbewusstsein geprägt ist, ist hierbei der Schlüssel für Startups.
In großen Unternehmen gibt es schon eine Unternehmenskultur. Sie wird durch unausgesprochene Regeln, Verhaltensweisen und Symbole spürbar. All das haben Startups noch nicht. Sie befinden sich in der glücklichen Situation, ihre Kultur von Beginn an so zu formen, dass ihre Strategie mit Leben gefüllt wird.
Wie baut man eine Kultur auf? Die Erwartungen sollten klar formuliert sein. Man muss sie immer wieder kommunizieren und dem Team Feedback geben – und das nicht nur, wenn jemand entgegen der Unternehmenskultur handelt, sondern vor allem dann, wenn ein Verhalten besonders positiv zur Kultur beiträgt.
4. Delegieren
Nicht nur auf die eigenen Fähigkeiten zu setzen, ist entscheidend. Ein Unternehmen wird irgendwann so groß, dass es unmöglich ist, überall gleichzeitig zu sein. Es ist wichtig, eine starke Organisation aufzubauen und Aufgaben zu delegieren. Dadurch kann das Potenzial des Teams voll ausgeschöpft werden. Dies setzt unglaubliche Energien frei und fördert das Wachstum des Unternehmens.
5. „See something? Do something.“
In Start-ups ist jede:r dafür mitverantwortlich, was links und rechts von ihm oder ihr passiert. Wenn ein Problem erkannt wird, muss etwas getan werden. Anders als in großen Konzernen, wo Aufgaben oft an spezielle Abteilungen delegiert werden können, erfordert ein kleines Unternehmen viel Eigeninitiative.
Mit nur rund 40 Mitarbeiter:innen bei EIR muss jede:r bereit sein, Verantwortung zu übernehmen und aktiv zu handeln, sonst bleibt vieles liegen. In einem kleinen Team muss jede:r mit anpacken. Es ist selten das Handeln, das mich stört, sondern die Untätigkeit. Das ist vielleicht einer der größten Unterschiede zwischen einem Großkonzern und einem Startup.
EIR wurde 2019 von Torgrim Lien (Chief Insurance Officer) und Oddvar Strømmen (Chief Technical Officer) in Stockholm gegründet. Zum Führungsteam gehören außerdem Martin Nyhuus (Chief Commercial Officer), Fredrik Schöld (Chief Financial Officer), Lykke Lundius (Head of Risk & Compliance) und ich als CEO. Wir alle verfügen über jahrzehntelange Erfahrung in der Versicherungsbranche.
Meine Zeit bei Zurich war geprägt von wertvollen Erfahrungen, die sowohl sehr ähnlich als auch sehr unterschiedlich zu meinen aktuellen Herausforderungen sind. Beide, EIR und Zurich, sind regulierte Versicherungsunternehmen mit strengen Regularien und hohen Standards im Finanzreporting. Ein fundiertes Risikomanagement ist ebenfalls unerlässlich, unabhängig von der Unternehmensgröße. Die Erfahrung aus einer großen Organisation ist von unschätzbarem Wert, besonders beim Aufbau von Beziehungen zu Partnern, Investoren und Regulierungsbehörden sowie im Umgang mit den Mitarbeiter:innen.
Foto: Fredrik Solberg, (c) EIR